1989 und seither

Während die anderen Leute im Sommer Strandurlaub in Italien oder Jugoslawien machten und im Winter Skiurlaub, fuhren wir meistens in die Tschechoslowakei, nach Budweis, wo mein Vater einen Sportsfreund hatte. So kannte ich den Ostblock schon als Kind im Oberösterreich der siebziger Jahre aus eigener Anschauung: die Notwendigkeit, bei der tschechoslowakischen Botschaft in Wien ein Visum zu besorgen; die Schikanen der maschinenpistolenbewehrten Grenzer, die mein Vater mit Einwegrasierern und Kugelschreibern zu besänftigen vermochte; die ruhigen, freundlichen, des Deutschen mächtigen Freunde, die in einer Neubauwohnung im vierzehnten Stock mit Balkon ganz gut lebten, in der Nähe einen kleinen Garten hatten und bald auch ein mit österreichischem Geld, ungefähr einem durchschnittlichen Monatslohn, finanziertes Wochenendhaus; wie überhaupt alles nach westlichen Begriffen nichts kostete; dass es für normalsterbliche Tschechoslowaken schwierig bis unmöglich war, ins westliche Ausland zu reisen; die Abwesenheit von kommerzieller Werbung und Plastiktaschen; die kommunistischen Parolen und Paraden; das Grau; dass die Dinge archetypischer waren und man gewisse westliche Verblödungswellen nicht mitgemacht hatte; die anderen, schlechteren Autos und Zigaretten; die Allgegenwart von Uniformierten; die gute Hausmannskost. 

1986, mit fünfzehn Jahren, fuhr ich gemeinsam mit einem Klassenkameraden für ein paar Tage nach Budapest. Hier sieht man einen wichtigen Unterschied zwischen den achtziger Jahren und der Gegenwart: heute lassen keine Eltern mehr ihre Fünfzehnjährigen allein ins Ausland reisen. Im Zugabteil saß eine Frau mit einem unglaublich kurzen Rock, die nach Arad fuhr und die ganze Zeit, auch auf Deutsch, über Ceaușescu schimpfte. Ich fragte mich, ob es denn völlig ungefährlich sein könne, im kommunistischen Ungarn über den rumänischen Diktator zu schimpfen. Ich fragte mich nicht, ob die Frau nicht etwa in Wirklichkeit als agente provocatrice vom Geheimdienst geschickt war.

Wir wussten, dass am Bahnsteig Budapester warteten, die einen für wenig Geld privat unterbrachten. Diese Art informeller Ökonomie war für uns ungewohnt, aber sie funktionierte. Ein älterer Herr führte uns in eine stilvolle, geräumige Altbauwohnung mit vielen Büchern und schönen, alten Möbeln. Das Frühstück servierte er uns ins Zimmer, und zwar in einem feinen Geschirr, das mich beeindruckte. Die Bürgerlichkeit in Budapest hatte den Kommunismus, an dessen nahem Ende die Gegenwart amerikanischer Zigarettenmarken keinen Zweifel ließ, gut überstanden.

1989 war mir egal. Ich war achtzehn, maturierte im Juni, fuhr im Sommer nach Großbritannien und zog im Herbst zum Studieren nach Wien. Der ÖVP-Außenminister, der einen Grenzzaun durchschnitt, hatte die falsche Art Bürgerlichkeit für mich. Deutschtümelei war mir fremd, und wäre ich Deutschtümler gewesen, hätte ich die Vereinigung der beiden deutschen Staaten nicht als besonders vorteilhaft angesehen, denn zwei Staaten bedeuteten mehr Sitze in internationalen Gremien und mehr politische und kulturelle Flexibilität.

Mein 1989 war 1991. Im Juli fuhr ich in die Sowjetunion und im September kehrte ich aus Russland zurück. Am 19. August war an meiner Wohnung am Leninskij prospekt in Moskau eine unendlich lange Panzerkolonne vorbeigefahren. Die russischen Wörter für Ausnahmezustand und Ausgangssperre bekamen plötzlich eine Wichtigkeit für mich. Ich dachte an 1989, und zwar an das Massaker vom Tian’anmen-Platz. Würde in Moskau ähnliches passieren wie in Peking?

Heute wisssen wir, dass der Befehl dazu zwar gegeben, aber nicht ausgeführt wurde. In Russland wurde die rechtserhaltende Gewalt (wie Walter Benjamin in Zur Kritik der Gewalt das nennt) nicht geübt, in China schon. Deshalb herrscht die Kommunistische Partei in China bis heute, nicht aber in Russland.

Ronald Reagan nannte die Sowjetunion ein evil empire. Ein böses Imperium ist zunächst ein weißer Schimmel, also nichts wirklich Falsches, nur ein Pleonasmus. Per implicationem meinte der Amerikaner freilich, die USA seien ein gutes Imperium oder gar eine gute Republik. Ein Imperium kann aber, da es Gewalt nach innen und außen üben muss, um sich zu begründen und zu erhalten, nur mehr oder weniger böse sein. Und auch eine herrschende Republik ist nichts anderes als ein etwas besseres Imperium. Das trifft auf die EU zu. Freilich sind Gurkenkrümmungsverordnungen Kinderkram gegen die Massaker des Britischen Imperiums oder den sowjetischen Gulag. Aber in der Interaktion mit dem Rest der Welt kann die EU im besten Fall ein nicht sehr böses Imperium sein, oder vielmehr erst werden.

Ende der achtziger Jahre war einige Zeit der Spruch Lieber tot als rot unten den sehr zahlreichen Rechten in Oberösterreich verbreitet. Ich fand das töricht. Freiheit und Wohlstand sprachen ganz eindeutig für den demokratischen Kapitalismus, aber die meisten Menschen lebten auch im Kommunismus nicht ganz schlecht. Sogar von noch schlimmeren Diktaturen konnte man dasselbe sagen. Die sogenannten Intellektuellen denken freilich nur an sich und ihresgleichen, und sie sind natürlich in den Diktaturen besonders oft Repressalien ausgesetzt; doch der Unterschied zwischen der kommunistischen Zensur und der demokratisch-kapitalistischen Exklusion ist ein bloß gradueller, unsere Journalisten und sonstigen Kulturmächtigen sind gemeinhin zumindest genauso blöd wie die Parteifunktionäre im Kommunismus, die erfolgreichen Kulturschaffenden sind da wie dort fast immer Mediokritäten, und ich persönlich lebe eigentlich auch, seit ich denken kann, in einer Art innerer Emigration.

Während des Putsches 1993 war ich wieder in Moskau, und die beiden Putsche von 1991 und 1993 sind in meiner Erinnerung über die Jahre ineinander verschwommen. An zwei Dinge erinnere ich mich aber noch ganz genau. Erstens an die an Reagan und Thatcher geschulte und von angloamerikanischen Ökonomen verbreitete brachialkapitalistische Ideologie, durch die man im Revolutionstempo die alten Verhältnisse umkrempeln wollte; von Marx ließ man nur noch die Lehre von der ursprünglichen Akkumulation gelten. Und zweitens daran, wie ich nach zehn Wochen in Russland und der Ukraine mit dem Zug bei Przemyśl die polnische Grenze überquerte. Plötzlich war die Welt nicht mehr von einem graubraunen Schleier überzogen, sondern alles war sauber und neu und sonnig und grün, die Straßenschilder standen nicht schief und waren nicht verrostet, keine Hungrigen und Wahnsinnigen behelligten einen auf Schritt und Tritt und keine Polizisten verlangten ein Trinkgeld.

In Moskau war ich seit 1993 nicht mehr, dafür viele Male in Kiew. Oft fuhr ich für den Preis eines besseren Wiener Abendessens die Strecke in kleinen Abschnitten mit dem Zug. Zwischen Österreich und Ungarn war ein zivilisatorischer Unterschied kaum merklich. Aber von Záhony nach Tschop fuhr man von einer Welt in die andere. Der einzige, der am Bahnhof in Záhony, und auf der Rückfahrt in Tschop, eine reguläre Fahrkarte kaufte, war immer ich; alle anderen drückten dem Schaffner einen Geldschein in die Hand. Die größte Passagiergruppe waren Frauen mittleren Alters, die Zigaretten schmuggelten. Auf der Rückfahrt legten einmal Afghanen ihre Teppiche unter den Waggonteppich, ohne aufzufliegen.

Was sich in den dreißig Jahren seit 1989 geändert hat? Osteuropa hat sich wirtschaftlich nicht so gut entwickelt, wie man das erwartete; insofern ist eine wichtige Veränderung nur zum Teil eingetreten. Die ökonomische und demographische Dynamik ist in anderen Teilen der Welt viel größer, unsere Gegend hat an Macht und Bedeutung verloren. Die Rolle des Kommunismus als Bedrohung unserer Zivilisation hat der Islam übernommen. Freilich wurde der Konflikt mit dem Kommunismus nur deshalb so unerbittlich geführt, weil er ein Familienstreit war; die diversen Kommunismen und Sozialismen sind ja letztlich christliche Sekten. Die Kommunisierung war auch ein reversibler Prozess, was von einer Islamisierung nicht zu erwarten wäre.

Die Spaltung unserer Gesellschaften in Herrschende und Beherrschte ist in der öffentlichen Wahrnehmung ein gutes Stück weit durch jene zwischen den Einheimischen und den Zugewanderten ersetzt worden. Die Beherrschten erkennen ihren Feind nicht mehr primär in den Herrschenden, sondern in den Ausländern. Die beherrschten Herrschenden (also die Leute mit viel kulturellem und wenig ökonomischem Kapital, zum Beispiel die Schriftsteller) hassen die herrschenden Herrschenden, weil sie die in- und die ausländischen Beherrschten gegeneinander ausspielen, und verachten die Beherrschten, weil sie ausländerfeindlich sind. In Ungarn, wo man in älterer Vergangenheit Unterdrückung, Sklaverei und Islamisierung durch die Türken und in jüngerer Gängelung durch Moskau erlitten hat und außerdem ein Drittel der eigenen Sprachgruppe im benachbarten Ausland großem Assimilationsdruck ausgesetzt ist, zeigt der neue Nationalismus sich noch deutlicher als in Österreich.

Die Parteienlandschaft hat sich in Österreich stark verändert: als Reaktion auf die Masseneinwanderung ist eine rechtspopulistische Partei aufgekommen; als Reaktion auf die ökologische Krise, die derzeit gern als Klimakrise formuliert wird, eine Ökopartei. Die Zweiparteiendemokratie in Österreich ist ebenso Vergangenheit wie die Einparteiendiktatur in Ungarn. Aber die sogenannten Eliten sind demokratieskeptisch geworden. Immer mehr Lebensbereiche werden ökonomisiert und verrechtlicht. Plutokratie und Nomokratie lösen die Demokratie ab, zumal in der Anglosphäre, wo solche Prozesse immer früher passieren als bei uns an der Peripherie der westlich-demokratischen Welt.

Und noch eine Menge weiterer Dinge haben sich geändert. Wer heute die Welt noch ohne Internet kannte, ist wie jemand 1989, der die Welt noch vor dem Ersten Weltkrieg erlebte.