Stöße III: Die neuesten zehn, zwölf Seiten aus dem Manuskript

Dem Geistesmenschen ist das ganze Leben Recherche. Alle Projektrecherche ist manierlich.

Zur Beantwortung der großen Fragen kann Recherche keine Hilfe leisten.

Ernst Jüngers Blumengießerprosa und Georg Kreislers Lied darüber.

Wie Paris in dem halben Jahrhundert von der Ankunft Pounds bis zum Tod Morrisons das Zentrum der amerikanischen Literatur war, so wäre auch heute für den verbliebenen deutschen Geist ein Exilort vorstellbar, in dem er sich, befreit von ökonomischen und sozialen Zwängen, neu sammeln könnte.

Jünger et hoc genus omne. Die Mondrakete fürchten sie, den Einbaum idealisieren sie. Hätten sie gelebt, als der Einbaum neu war, hätten sie den Einbaum gefürchtet.

Schönes Wetter, guter Sex, ein mittlerer Literaturpreis, und ich muss neun von zehn Stößen streichen.

Der Glaube an die Wissenschaft ist der Glaube an einen Zauber, weil jeder Glaube ein Zauberglaube ist, und nicht weil die Wissenschaft ein Zauber wäre.

In Fragen der sprachlichen Korrektheit heißt alles verstehen tatsächlich alles verzeihen, oder sogar nichts zu Verzeihendes sehen. Alle Sprachpedanterie ist Unverständnis.

Linkentum ist Rechtentum für Arme.

Man muss sowohl jung und schön als auch reich sein. Jegliche andere Existenz ist postlapsarisch.

Für die Académaille heißt aufgeklärt sein wissen, was Kant gesagt hat.

Gómez Dávila war ein Salonrechter.

Rechtentum ist Linkentum für Dumme.

Der Bildungsroman, vom Wilhelm Meister bis zur Éducation sentimentale, ist ein verklärter Karriereroman und nur noch von historischem Interesse.

Der Karrierismus ist die niedrigste Form der menschlichen Existenz, steht also sogar noch unter dem Religionismus.

Eine moderate Religion ist ebenso erfreulich wie eine moderate Sklaverei oder ein moderater Kannibalismus.

Sprachskepsis ist eine eingebildete Krankheit.

Der Literatur muss man mit Skepsis begegnen, und vielleicht war die moderne Sprachskepsis eine verkleidete Literaturskepsis.

O Aleksandr Sergeevitsch! Dein Mozart freut sich, wenn der Wirtshausgeiger Mozart geigt, und dein Salieri leidet. O Udo Lindenberg, o Horaz!

Fast jeder Ernst erscheint den Heutigen als Donquijotterie, als bessere locura.

Die Mediokren wissen nicht aus eigener Erfahrung, was ein Gedanke ist, und wenn sie von einem hören, missverstehen sie ihn als allgemeines Prinzip, als Formel.

Vernunft mag nicht immer gleich Tugend sein, aber Unvernunft ist immer gleich Untugend.

Die Vernunft ist das Glück des Vernünftigen, die Unvernunft des Unvernünftigen.

Im Orient stinkt der siechende Gott, im Okzident der unbestattete tote.

Nicht die Welt retten wollen.

Epigonentum ist der Normalfall geworden. Am Authentischen wird von den herrschenden Nichtsen höchstens beurteilt, wie gelungen der Schwindel sei.

Unser Hunger sei nicht der Hunger des Knut Hamsun, sondern der Hunger der Jean Rhys.

To a Lost Cause: to All Lost Causes würde Jean Rhys trinken: sie ist der Antipode des Nicolás Gómez Dávila

Was würde Chili Palmer tun?

Literatur, die tut, als gehöre sie keinem Genre an.

Es kommt nicht darauf an, welchem Genre eine Literatur angehört, sondern wie sie ihm angehört.

Statt den Religionen den Todesstoß zu versetzen, proklamierten die säkularen Eliten der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts deren Irrelevanz. Jetzt versetzen die Religionen den säkularen Eliten den Todesstoß.

Von Zeit zu Zeit greift der westliche Rechtsstaat gegen die islamischen Fundamentalisten gnadenlos durch, als hielte er sich für den letzten Zaren und jene für die Kommunisten.

Was beim Parteigänger und beim Kirchgänger offen zutage liegt, nämlich dass ihm Wahrheit nichts als epistemische Gruppenzugehörigkeit ist, gilt uneingeschränkt, aber versteckt, auch für die Académaille.

Der halbhelle Kopf sieht bei den philosophischen Erkenntnissen nur ihre kulturelle Determiniertheit.

Die Formulierung einer Wahrheit ist ihr Gewand, das sie von Epoche zu Epoche wechselt.

69 Année érotique. Wer erotische Jahre hat, hat keine erotischen Tage und Nächte.

Wessen per Gedenkjahr gedacht wird, dessen Andenken ist tot.

Dem Theatermann ist die ganze Welt eine Bühne, dem Schulmann eine Schule, dem Zeitungsmenschen Klatsch und Mord, dem Soldaten ein Schlachtfeld, dem Politiker ein Spielfeld, dem Wirtschaftsmenschen ein Markt, usw. usf.

Ein Vergleich darf, damit er funktioniert, weder zu weit noch zu nahe hergeholt sein. Das gilt sowohl in der Literatur als auch in der Psyche des einzelnen. Bourdieu war so offensichtlich der Freud der Soziologie, dass Freud der Bourdieu der Psychologie geheißen werden muss. Dennoch identifizierte er sich mit Flaubert und vor allem mit Manet. Vielleicht wendete Bourdieu einen Bescheidenheitstopos an, oder er wollte nicht Deutscher und Jude sein.

Die Wissenschaftlichkeit ist die geistige Redlichkeit der Geistlosen.

Coolness ist geheuchelte Weisheit. Immerhin.

Hipness ist der ästhetische Konformismus Halbprivilegierter, deren größtes Kapital ihre gefühlte Jugendlichkeit ist.

Habitus clivé: weißer Schimmel.

Nietzsche kann man seine Nachsicht gegen Pascal nachsehen, denn er nimmt ihn immer als historisches Opfer eines gemeinsamen Feindes, des Christentums. Bourdieu hingegen erweist sich durch seine philosophische Nähe zu Pascal als Kryptoreaktionär.

Pascal lebt im Christentum wie ein Kind in der Kindheit. Für Gómez Dávila sind Kirche und Religion ein Paradies, in das er blickt wie ein Erwachsener in eine verklärte glückliche Kindheit.

Die Ilias war der Islam, die Odyssee das Christentum der Griechen.

Ostentative Apollinität, bei den ernsten Schriftstellern der Bourgeoisie der Normalfall, steht immer unter dem Verdacht der feigen Manierlichkeit. Ostentative Dionysität, das Wagnis junger Wilder, ist hingegen immer unmanierlich. Der Wert sowohl der ostentativen Apollinität wie der ostentativen Dionysität bemisst sich an ihrer Geistigkeit.

Für den Denker sind die großen Philosophen, mit denen er sich auseinandersetzt, ein Über-Ich: etwa für Pascal Montaigne, den er ständig freundlich zurückweist, oder für Schopenhauer der große Kant und der göttliche Platon. Für den Philosophieprofessor aber sind die großen Philosophen ein Es, denn er selbst hat keine eigene geistige Energie.

Durch seine Bezugnahme auf Montaigne ist Pascal für uns gerettet.

Die philosophischen Traktate und akademischen Abhandlungen sind Geist mit Parfum und Pomp und Hofzeremoniell. Der Aphorismus ist der reine Geist.

Wie falsch das Volk die Oberschicht imaginiert, ist zum Schmunzeln. Wie falsch die Linksintellektuellen das Volk imaginieren, ist zum Speien.

Wo Meister und Schüler sind, sind keine Meister.

„Das Christentum hat auch in der Ermordung von Millionen von Menschen geendet,“ meinte Carl Schmitt. Hat es leider nicht!

Die Literaturwettbewerbe sind wie die Oldtimerautorennen, bei denen gewinnt, wer eine mittlere Geschwindigkeit fährt.

Ein Habitus, o Pierre Bourdieu, tut gar nichts. Er bestimmt höchstens die Form, wie ein Subjekt tut, was es tut.

Wenn das Subjekt ein Habitus wäre, könnten wir es auch weiterhin Subjekt heißen.

Die falschen Revolutionen sind, so Bourdieu, oft schicke Restaurationen. Und die wahren, muss man hinzufügen, unschicke.

Die posthum herausgegebenen Aphorismen (der Fall Pascals, Lichtenbergs, Leopardis) sind unfrisiert und manches an ihnen erscheint entbehrlich. Zu Lebzeiten publizierte Aphorismen sind immer eine frisierte Auswahl. Gómez Dávila trieb das Auswählen und Frisieren und Ziselieren in den Escolios zum Exzess; aber die legeren Notas sind vielleicht das bessere Buch. Wie Nietzsches Essays sind sie auch Erläuterungen zu den Aphorismen. Und von Nietzsche haben wir ja auch den unfrisierten, unausgewählten Nachlass. Dass die einen Leser sagen, Nietzsches Nachlass enthalte nichts Neues, und die anderen, der ganze Nietzsche sei sein Nachlass, liegt daran, dass es die einen lieber frisiert haben und die anderen unfrisiert.

Blanchot et hoc genus omne: Einmal Journalist, immer Journalist.

Auf Englisch kann man nicht philosophieren. Auf Russisch schon, aber es klingt zumeist wie eine Übersetzung aus dem Franko-Alemannischen.

Die Religion ist ebenso sehr eine anthropologische Grundkonstante wie die Masern und die Cholera.

Viele Religiöse sind eingebildete Kranke. Gómez Dávila ist ein schönes Beispiel.

Des geistigen Rausches ist heute neben dem Deutschen noch am ehesten der Russe fähig. Der Engländer verliert im Rausch die Geistigkeit, die er sich ja auch nüchtern kaum erlaubt. Dem Franzosen fehlt im Rausch der Ernst. Der Mediterrane, und mit ihm der Lateinamerikaner, ächtet den Rausch und hat an der Nüchternheit seine schlimmste Beschränkung.

Der Grieche kultivierte den Rausch des Denkens, der Römer den Rausch des Schreibens.

Es bedarf eines besseren Chemikers, als ich einer bin, um zu erklären, warum die Seiten im Internet schneller vergilben als in den Büchern.

Die Autoren kleiner Sprachen sind immer in der Situation des Kleinbürgers, und ihr Problem ist ebenso unlösbar.

Bei den Staaten verhalten das militärische und das ökonomische Kapital sich so zueinander wie das ökonomische und das kulturelle bei den Individuen.

Wer die Intelligenz, eine Sprache, eine Literatur u. dgl. zu seiner Heimat macht, wird eo ipso zum Verräter an dieser.

Männer können schwul sein, Staaten neutral.

Der gemeine Christ ist Religionist ohne Gott, wie der gemeine Pole Antisemit ohne Juden ist.

Wo von Gewaltlosigkeit geredet wird, ist fast immer die Anwendung symbolischer Gewalt gemeint.

Die Linksnietzscheaner sind nur ein Kuriosum. Egon Flaig, der erste Rechtsbourdieusianer, ist ein Mann echten Geistes.

Asien ist das Es, das Slawentum das Ich, der Westen das Über-Ich Russlands.

Mein Schloss ist das mit späten Gästen.

Unser Erbe ist das Erbe der Vernunft, und das Erbe der Aufklärung nur insofern, als die Aufklärung die soziopolitische Manifestation der Vernunft in der abendländischen Geschichte ist.

Die Tugend der Labilen, der aus psychischer Turbulenz Entkommenen ist es, der reinen, nüchternen Vernunft zu dienen. Die Tugend der Stabilen, der zutiefst Gesunden ist es, den Rausch und den Wahn zuzulassen.

Der recherchierte Stoff macht einen literarischen Text so unmöglich wie der gesuchte Ausdruck.

Das philosophische Gespräch mit Zeitgenossen befriedigt nie, weil die Politik, das verleugnete persönliche Interesse immer die Episteme überlagert. Von der Eristik befreit ist nur die Kommunikation über Jahrhunderte hinweg.

Nemo propheta in patria, es sei denn er ist im Nebenberuf Heerführer.

Voll nicht. Zeitwörter, die mit voll beginnen, so Gerhard Amanshauser, seien vulgär, und deshalb verwende er sie nur im Selbstgespräch. Ich hingegen lasse, ein umgekehrter Amanshauser, meiner Vulgarität im Umgang mit anderen freien Lauf und gegen mich selbst dafür die ausgesuchteste Höflichkeit walten.

Die Konvolute, mit denen die Akademisten ihre Bibliotheken füllen, sind Entwürfe für die Kompendien späterer Epochen, die je ein paar Millionen Seiten zu je einer einzigen verdichten.

Der akademische Jargon ist hässlich, aber er ist ein notwendiger Beitrag zu etwas zukünftig Schönem.

Mit „innovativ“ meint die Littéraille ihr altes Immergleiches weiterführend, mit „anspruchsvoll“ konventionell und manierlich.

Dass die Herrschenden das Erben weiterhin hochgehalten sehen wollen, ist verzeihlich. Dass sie es aber weiterhin überall als elitäre Leistung ausgeben dürfen, ohne verhöhnt zu werden, ist ein Ärgernis und ein Übel. Denn hier siegen die Manieren über den Geist, der die Waffen der Soziologie besitzt, es aber verschmäht, sich ihrer zu bedienen.

Feldkunst bezieht ihren Wert aus ihrem Opportunismus gegenüber einer gesellschaftlichen Gegebenheit. Weltkunst kümmert sich nicht weiter um das Milieu, in dem sie entsteht. Feldkunst ist immer Müll, Weltkunst ist Kunst.

Eichmann war 1961 ein völlig anderer Mensch als 1941.

Die Begeisterung für Shakespeare ist ein gutes Stück weit die Begeisterung für seine Zeit.

Provinzialismus gibt es nicht nur im räumlichen, sondern auch im zeitlichen Sinn. Dass die meisten Erfolgsliteraten mit dem Leben auch den Ruhm verlieren, liegt vor allem daran, dass sie Zeitprovinzler sind.

Ob man die Welt für gut hält und fröhlich ist, oder aber sie mit übler Laune und Ingrimm als schlecht betrachtet, das hat wenig mit Denken und Erkenntnis zu tun, sondern ist eine bloße Attitude. Bei einer Mediokrität wie Cioran wird der Pessimismus als die Sache selbst ausgegeben; beim großen Schopenhauer ist er ein Arrangement und eine Beleuchtung der Dinge.

Jeder Mensch solle in seinem eigenen Land leben, und Leute, die in einem anderen Land zu leben wählten, seien immer irgendwie seltsam oder verschroben, denkt sich der Erzähler von John Cheevers Boy in Rome an einer Stelle. Wie wahr, wie treffend! Aber wie wahr ist auch das Gegenteil; dass Leute, die immer in ihrem eigenen Land leben, etwas Seltsames oder Verschrobenes an sich haben und dass niemand immer daheim bleiben soll.

Philosophieren heißt von allem absehen.

Es gibt gedankenreiche Bücher, die jedes Denken verunmöglichen, und gedankenlose Bücher, die das Denken stimulieren.

Der Typ mit dem Bart und der Bombe.

Ich bin so Kassier des Österreichischen Autorenfußballteams, wie Gómez Dávila Vizepräsident des Jockey Club in Bogotá war.

Ein Pseudofinalsatz ist ein weißer Schimmel.

Koan und Aphorismus sind wie Affe und Mensch.

Im nächsten Leben will das Koan ein Aphorismus werden.

Die „Seele“ ist ein kleinbürgerlicher Klimbim.

Was soll daran paradox sein, wenn etwas sich selbst erkennt? Die „Philosophen“ stehen vor der Selbsterkenntnis wie die Katze vor dem Spiegel.

Wenn Sein Wahrgenommenwerden ist und ich mich selbst erkenne, bin ich dann causa mei? Aber woher denn! Ich bin doch nicht ich! Weder als Subjekt bin ich mit mir identisch, und schon gar nicht ich als Subjekt mit mir als Objekt.

Die historischen „Philosophien“, von der Scholastik bis zu Heidegger, sind schlechte Erzählungen. Die kitschigsten sind jene, die als happy end „Gott“ haben.

Siegerjustiz ist ein weißer Schimmel.

Wissen bedarf keiner Rechtfertigung.

Die Académaille glaubt, alles, was sich rechtfertigt, sei wissenschaftlich. Daher ihr Rechtfertigungszwang.

Es gibt kein „narratives Wissen“.

Die einzige Alternative zur Vernunft ist die Gewalt.

Der Gute meidet Bordelle und Bibliotheken.

Den Törichten gilt alle Weisheit als angemaßt.

Die beste und die schlechteste Kunst ist Wohlfühlkunst.

Die Postmodernisten und Konsorten haben die starke Meinung nicht aus epistemischen, sondern aus politischen und aus ästhetischen Gründen tabuisiert. Nicht anecken und immer fesch sein.

Es gibt einen Skeptizismus der Stärke und einen Skeptizismus der Schwäche.

Der Reaktionarismus ist in seinen höchsten Ausprägungen, etwa bei Gómez Dávila oder bei Gerhard Amanshauser, der Versuch einer sich an der Manierlichkeit reibenden Geistigkeit.


Version vom 1. Jänner 2015

© Kurt Leutgeb