Die Kolonialfrage

… de schoonheid van verbuigingen …
Hugo Claus

 

Die sogenannte Kolonialfrage, mit der man uns schon seit Jahrzehnten immer wieder quält, erinnert mich an eine Geschichte aus meiner Jugend. 

Ich hatte gerade mein Bac gemacht, war anschließend mit meinem Vater eine Woche auf Korsika segeln gewesen und verbrachte nun ein paar Sommerwochen im Haus meiner Mutter. Dieses Haus befand sich in jener größeren zentralfranzösischen Stadt, in der ich geboren wurde und einen großen Teil meiner Kindheit verlebte. Ein paarhundert Meter entfernt, in einer Windung der rue du Serpent, befand sich ein Nahversorger, eine für die damalige Zeit typische Greißlerei, aus der ich fast jeden Morgen Frühstück holte, und in die ich oft gegen Abend, wenn die Nachmittagshitze nachließ, ein zweites Mal ging, falls für das Abendessen irgendwas fehlte. Kolonialwaren — Piquedent stand auf dem Ladenschild.

Monsieur Piquedent, oder wie wir meistens sagten: le petit-fils Piquedent, der Enkel Piquedent, war ein altersloser grauhaariger Greißler im grauen Greißlermantel, dessen ganze Existenz man mit einem Blick durchschaute. Nach dem Pflichtschulabschluss hatte er im Geschäft seines Vaters eine Lehre gemacht, hatte dann als Angestellter in der Greißlerei gearbeitet, und das Geschäft, als sein Vater in Pension ging, von ihm übernommen. Jegliche andere Möglichkeit der Lebensführung, jegliche andere Berufswahl hatte für ihn, das einzige Kind seiner Eltern, nie bestanden, und auch die Möglichkeit des Aufbegehrens gegen diesen vorgefertigten Lebensentwurf hatte er nie in Erwägung gezogen. Ein gutes, sicheres Einkommen, ein Leben als angesehener Ladenbesitzer, was hätte er auch mehr wollen sollen? Seine Freunde in der Schule und auf dem Spielplatz beneideten ihn.

Von meinen Eltern wusste ich, dass schon mein Urgroßvater Raoul, der die Anwaltskanzlei unserer Familie in Paris gründete, den Großvater des Enkels Piquedent kannte, le père Piquedent. Dieser gründete die Greißlerei und hatte mit seiner viel jüngeren Frau ein spätes Kind, den Sohn Piquedent, allseits bekannt als le fils Piquedent, und der Sohn Piquedent war natürlich der Vater des Enkels Piquedent. Als Heranwachsender maß ich dieser Abfolge von Vater – Sohn – Enkel auch deshalb eine besondere, irgendwie mystische Bedeutung bei, weil ich sie mit der Formel Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes in Zusammenhang brachte, die ich, obwohl meine Familie rein konfessionslos war, irgendwo aufgeschnappt haben musste. Der Vater Piquedent war bestimmt lange vor meiner Geburt gestorben; der Sohn stand, als ich ein Kind war, noch im Geschäft und war nun, wenn er noch lebte, ein sehr alter Mann; und als ich eingeschult wurde, übernahm wohl der Enkel gerade vom Sohn das Geschäft.

Meistens war ich der einzige Kunde, wenn ich in jenem Sommer zum Enkel Piquedent in den Kolonialwarenladen kam, und so entspann sich eines Tages ein über die üblichen Höflichkeiten hinausgehendes Gespräch. Der Enkel klagte mir sein Leid:

— Die Leute — ich meine nicht Sie, monsieur Luc — kaufen in den Supermärkten ein, und wenn sie was vergessen haben oder schnell was Frisches brauchen, kommen sie zu mir. Wie soll ich da einen Gewinn machen? Früher hatte niemand ein Auto, da konnten die Leute gar nicht zum Großeinkauf in die Supermärkte fahren. Auch auf einem Moped kann man nicht viel transportieren, aber heute haben ja alle ein Auto. Früher hatte niemand einen Kühlschrank, da mussten die Leute zu uns kommen, denn nur in den Kolonialwarenläden wurde gekühlt, mit Eisblöcken. Heute hat jeder seinen eigenen Kühlschrank, jeder kauft auf Vorrat ein und spart sich ein paar Sous. Natürlich ist die Fabriksware im Supermarkt ein paar Centimes billiger als die traditionell hergestellten Lebensmittel bei mir. Und die großen Ketten kriegen alle phantastische Rabatte bei den Lieferanten, während ich den vollen Preis zahle. Und den Angestellten zahlen sie einen Bettel, während madame Descoings bei mir mehr verdient als eine Filialleiterin bei denen. Wo ist die Gewerkschaft, wenn sie einmal zu etwas nütze sein könnte? Und der Bürgermeister schanzt den Supermarktketten billige Baugründe am Stadtrand zu, erteilt eine Genehmigung nach der anderen. Man kann sich denken, wie das abläuft. Und mir erhöht man jährlich die Pacht, weil man investieren muss, damit das Stadtzentrum attraktiv bleibt! Wohin soll das noch führen?

Der für gewöhnlich schweigsame Mann war von seinem Redeschwall, der sich offenbar lang aufgestaut hatte und nun plötzlich losgebrochen war, peinlich berührt. Ich muss die richtigen Worte gefunden haben, denn er beruhigte sich gleich wieder, und als ich ihm, augenzwinkernd hinzufügend, dass ja ohnehin keine Kunden kommen würden, anbot, mit mir eine Zigarette zu rauchen, lud er mich zur Hintertür des Geschäftslokals, von der aus er freien Blick auf die Eingangstür hatte.

— Früher hatten wir einen Angestellten, monsieur Nanon, der rauchte immer hier. Sehr fleißig, sehr genau, aber ein starker Raucher war der. Für mich ist es die erste Zigarette während der Arbeitszeit, und ich bin schon praktisch mein ganzes Leben Kolonialwarenhändler!

So plauderten wir eine Zigarettenlänge recht belanglos, und ich ging mit meinen Einkäufen nach Hause, ohne dass ein Kunde gekommen wäre.

Jedes Mal, wenn ich nun in seinen Laden kam und — was vor allem am Abend der Fall war — keine anderen Kunden dawaren, schüttete der Enkel Piquedent mir nun sein Herz aus.

— Sie sind ein junger Mensch, monsieur Luc! Begeben Sie sich nicht in so eine Sackgasse wie ich! Die anderen Kolonialwarenhändler, jedenfalls die meisten von ihnen, haben sich unter das Dach einer großen Kette begeben und sind nicht mehr die Herren im eigenen Geschäft. Ein paar haben auch auf Spezialitäten umgestellt, bieten über zweihundert Käsesorten an oder frischen Meeresfisch. Aber für derlei ist der Markt bei uns sehr klein. Ich bleibe über, monsieur Luc! Die anderen Geschäftsleute hier lachen schon über mich, und die schlimmsten haben sogar Mitleid mit mir. Und welche Frau würde einen Kolonialwarenhändler nehmen, dessen Geschäft den Bach hinuntergeht? Ich bleibe über, da ist nichts zu machen.

— Aber könnten Sie nicht etwas anderes machen? Das Metier wechseln?

— Das ist es ja eben! Ich bin kein Schuster, kein Tischler, kein Lehrer, kein Richter, kein Bäcker, kein Friseur. Ich kann nur mit Kolonialwaren handeln. Und die Welt hat beschlossen, dass sie keine Kolonialwarenhändler mehr braucht, und deshalb darbe ich hier in meinem unterfrequentierten Laden und vertreibe wohl auch Sie noch mit meinem Gejammer.

Bei uns putzte damals eine Kambodschanerin, die nur ein paar Jahre älter als ich gewesen sein konnte. Ich sah sie fast nie, vermutlich weil meine Mutter es für angebracht hielt, das so einzurichten. Als ich jedenfalls eines Abends beim Enkel Piquedent im Laden stand, sah ich sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite im ersten Stock eines Hauses, über einem Friseurladen, die Fenster putzen.

— Guten Abend! rief ich über die Straße.

— Guten Abend die Herren Kolonisateure! rief sie zurück und putzte weiter. Sie war klein, ein bisschen mager, recht hübsch, und hatte mit ihren lachenden Augen unter dem zerrupften schwarzen Haar etwas Lausbübisches. Monsieur Piquedent lächelte.

Ich erinnerte mich, dass er mir gesagt hatte, als scheiternder Kolonialwarenhändler werde er nie eine Frau finden, und als ich das nächste Mal zu ihm ins Geschäft kam, sagte ich ins Blaue hinein:

— Monsieur Piquedent, die junge Putzfrau von gegenüber …

— Ja?

— Sie putzt auch bei meiner Mutter. Und sie hat nach Ihnen gefragt. Ich glaube, Sie haben eine Verehrerin.

— Ach, die macht sich bestimmt nur über mich lustig!

Aber er sagte es nicht so, als ob er es meinte. Also richtete ich es so ein, dass ich gerade im Garten rauchte, als die junge Putzfrau kam, und bot ihr auch eine Zigarette an. Und ich ließ fallen, dass monsieur Piquedent sich nach ihr erkundigt habe.

— Dass Sie so hübsch sind, hat er gesagt. Ich glaube, Sie haben einen Verehrer.

Sie schnitt dazu nur eine Grimasse und ging ins Haus. Für mich aber gab es nun kein Zurück mehr, ich musste die beiden irgendwie zusammenbringen. Dabei hatte ich bisher gänzlich ohne jeden Plan gehandelt, sondern so völlig impulsiv, wie es damals meine Art war. Auch im Lycée war ich für meine Streiche bekannt gewesen und hatte zurecht als ungezogener Bengel gegolten.

Am nächsten Wochenende fand auf der île des Fleurs eine eine Art Hippie-Festival statt, oder was man sich damals in der französischen Provinz halt darunter vorstellte: Konzerte, Cannabis, Friedenaufrufe, Solidaritätsbekundungen mit der maoistischen Kulturrevolution. Es kamen sogar Freunde von mir aus Paris. Ich fragte den Kolonialwarenhändler und die Putzfrau, ob sie mitkommen wollten, borgte mir das Auto meiner Mutter aus und fuhr mit ihnen nach Queue-de-Vache, wo ich ein Boot liegen hatte, denn Boote waren damals meine große Leidenschaft.

— Ich bin Angèle, sagte die Kambodschanerin.

— Ich bin Petit-fils, sagte der Kolonialwarenhändler.

Es war ein sehr heißer Tag mit ungetrübtem Sonnenschein, und Angèle spannte, als wir ins Boot gestiegen waren, einen großen roten Sonnenschirm auf. Sie trug ihre beste Bluse, einen kurzen Rock und flache Schuhe und war eine kleine exotische Schönheit. Petit-fils hatte Gel in seinen grauen Haaren, trug Sonnenbrille, T-Shirt, Jeans und Stoffschuhe und sah beinahe cool aus.

Auf der Überfahrt waren sie noch ein wenig steif im Umgang, er sagte zu ihr Mademoiselle und sie zu ihm monsieur Piquenez. Aber als wir die île des Fleurs erreichten, lud ich sie zum Essen ein, wir tranken eine Flasche Wein, und sie tauten auf. Vor allem Angèle war sehr gesprächig, wählte für den zögerlichen Petit-fils auch die Speisen von der Karte aus und wusste sofort eine Lösung für sein Problem mit dem Geschäft.

— Eine Tankstelle. Heute muss man eine Tankstelle betreiben. Das ist eine Goldgrube. Und das hat Zukunft. Es gibt immer mehr Autos, die Leute fahren immer mehr damit herum. Also braucht es mehr Tankstellen. Sperr deinen Kolonialwarenladen zu und mach eine Tankstelle!

— Ich kann aber nichts außer mit Kolonialwaren handeln! Ich habe sonst nichts gelernt.

Da ich dann meine Pariser Freunde traf, verlor ich die beiden ein wenig aus den Augen. Als die Konzerte zu Ende waren und es ruhig auf der Insel wurde, ging ich zu meinem Boot. Wenig später kamen, illuminiert, verschwitzt und glücklich, Angèle und Petit-fils, und ich brachte sie in der Dunkelheit zurück nach Queue-de-Vache. Vorher drehte ich noch einen langen, dicken Joint, den wir auf den Überfahrt kreisen ließen.

Als wir in Queue-de-Vache von Bord gingen, leuchteten uns plötzlich Taschenlampen ins Gesicht. Polizei. Sie nahmen uns wegen Drogenkonsums und -besitzes fest. Wir verbrachten den Rest der Nacht auf der Polizeistation, dann holte mein eigens aus Paris angereister Papa uns heraus.

Es war ein veritabler Skandal. Vor allem konnte man damals, obwohl halb Paris kiffte, noch Gefängnisstrafen für Konsum und Besitz ausfassen, was uns zum Glück erspart blieb. Aber mein Vater war stinksauer und steckte mich für den Rest des Sommers in einen Vorbereitungskurs für die Uni. Und der Kolonialwarenladen Piquedent verlor, da sein Betreiber nun ein Drogensüchtiger war, bestimmt seine letzten treuen Kunden.

Im Herbst begann ich in Paris zu studieren, wurde Jurist und übernahm schließlich von meinem Vater die Kanzlei. In meine Geburtsstadt kam ich, nachdem meine Mutter das Haus verkaufte, überhaupt nie zurück, aber vor zwei Jahren machte ich auf der Autobahn einen Tankstopp. Von der Tankstelle aus konnte man schön das Weichbild meiner Geburtsstadt betrachten.

Und wen sah ich, als ich zum Zahlen hineinging?

— Petit-fils!

— Luc!

An der Kassa stand der Enkel Piquedent, nun schon im Großvateralter. Und im Nebenraum war ein kleines Café, wo ein paar Leute Pernod und Kaffee tranken. Hinter der Ausschank stand eine Asiatin, so dick geworden, dass ich erst gar nicht erkannte.

— Angèle!

— Luc!

Ich trank einen Espresso und plauderte mit Angèle. Petit-fils kassierte und kassierte, und als endlich einmal gerade kein Kunde zahlen wollte, kam er herüber.

— Na, wie geht’s? fragte ich ihn.

— Sehr gut, sehr gut! Mit dem Tanken geht seit Jahren alles prächtig, und mit dem Café machen wir immer schon den meisten Reibach. Wir haben das Haus in der rue du Serpent gekauft, wo früher das Geschäft meines Großvaters war.

— Und die Kolonialwaren?

— Oh, mein Gott, die Kolonialwaren! Die bringen keine Butter mehr aufs Brot!


Version vom 1. Februar 2015

© Kurt Leutgeb