Stöße I: Über Aphorismen

Die Aphoristik ist die Lyrik des denkenden Menschen.

Der Versdichter schätzt den Prosaiker gering, der Prosaiker den Versdichter. Überhaupt hält jeder sein eigenes Genre für das höchste und blickt auf die anderen hinunter. Nur der Aphoristiker steht drüber.

Der Reiz eines Stiles, der nicht alles ausführt, sondern nur andeutet, liegt darin, dass der Leser nicht an der sprachlichen, bewussten Oberfläche bleiben kann, sondern tiefere Regionen seiner Psyche aktivieren muß. Akademische Abhandlungen liest man mit dem Ich, Aphorismen mit dem Ich und dem Es.

Der Referenzstil, den der Aphoristiker durch Ironie moduliert, ist der sinaitische: von einem jenseitigen Alleinherrscher in Steintafeln gemeißelt.

Omnia dicere et omnium contraria. Was Mazzino Montinari über Nietzsche sagte, nämlich dass er alles gesagt habe und das Gegenteil von allem, das könnte für uns Aphoristiker ein Wahlspruch sein. Die Frage ist nur: Was ist alles? Und was ist sein Gegenteil?

Nur im Aphorismus ist le mot fort immer zugleich le mot juste.

Der implizite Text einer Aphorismensammlung ist immer die Welt selbst und die Welt im Spiegel der Weltliteratur.

Der Systematiker ist ein Ehegatte, der Aphoristiker ein Don Juan.

Der Aphoristiker spielt den Leser an wie der Ballsportler den Mitspieler.

Der Aphoristiker läuft immer Gefahr, sich zum Aufseher der Arbeit der Welt zu machen.

Ein Aphorismenbuch ist ein Kreißsaal.

Ein Aphorismus ist der Geburtsschrei einer Philosophie.

Der Essayist, der Romancier lädt uns erst zum Tee, dann zum Abendessen ein, kauft uns Blumen und Konfekt, interessiert sich für unsere Kindheit und Großmütter, ehe er uns vielleicht zu sich nach Hause mitnimmt. Der Aphoristiker, der Lyriker legt uns flach, ehe er weiß, wie wir heißen.

Der Hohn ersetzt im Aphorismus oft den Geist. Mit wenigen Worten zu beleidigen ist leichter, als etwas auszusagen.

Beim Aphorismus extrapoliert der Denker aus dem Anstoß die neunzig Minuten.

Das Wortspiel ist der Aphorismus der Hirnlosen.

Der Aphorismus ist das unhöflichste Genre. Er zelebriert die Zeremonielosigkeit.

Man kann die Aphorismensammlung als Sonderform des Katalogs ansehen.

Das Werk des Aphoristikers ist, pace Gómez Dávila, nicht ein pointillistisches Bild. Eher schon gleicht es einer langen Serie von aus verschiedenen Perspektiven und bei wechselnden Lichtverhältnissen aufgenommenen Photographien einiger nicht allzu zahlreicher Objekte.

Die fünf. Soweit ich sehe, gab es bisher nur fünf große Aphoristiker im vollen, höchsten Sinn des Wortes: Pascal, Lichtenberg, Leopardi, Nietzsche und Gómez Dávila.

Flucht nach vorne. Einen mäßig originellen Gedanken rettet der Aphoristiker, indem er ihn als Aggression, als Angriff formuliert.

Pascal schließt sich durch sein Christentum aus dem Kreis der größten Aphoristiker aus.

Der Aphoristiker widerspricht sich aus Klugheit.

Im Aphorismus ist die Rezeptionsästhetik mit der Werkästhetik versöhnt.

Der gute Leser wird vom Aphoristiker getragen; der schlechte Leser trägt den Aphoristiker.

Wir können Verständnis dafür haben, dass manche Leute keine Philosophie, keine Gedichte, keine Dramen, keine Aphorismen, keine Essays, keine Zeitungen lesen. Aber für Leute, die keine Romane lesen, gilt eine Nulltoleranzpolitik.

Der Aphorismus ist das prägnante, das schwangere Genre. Die Maieutik obliegt dem Leser.

Einen Aphorismenband nach Themen ordnen ist wie sein Leben nach Tätigkeiten ordnen: erst ein paar Jahre nur essen, dann nur trinken, dann nur schlafen, dann nur Sport treiben usw.

Die Aphorismensammlung ist der Italo-Western der Philosophie.

Das Aphorismenbuch braucht ein großes Orchester.

Man merkt es den Aphoristikern an, dass sie keine Essays zu schreiben verstanden.

Ein Subgenre des Aphorismus ist der Gnadenschuss.

Der Aphorismenband ist nicht der Gegensatz des abgerundeten Buches, sondern ein Buch.

Der Leser des Aphorismenbandes muss aus den Bauklötzen einen Turm bauen. Der Leser des abgerundeten Prosabandes muss den Turm umhauen und die Bauklötze zusammensammeln.

Es gibt zweierlei Aphorismen. Die einen nehmen an Schlachten teil, die anderen berichten von ihnen.

Der Aphorismus ist das subversive Genre par excellence, weil er den herrschenden, allein legitimen Diskurs ignoriert und sich sein eigenes Gesetz gibt.

Die Maxime ist kollektivistisch, zivilisationsversunken und, historisch betrachtet, aristokratisch; der Aphorismus individualistisch, zivilisationskritisch, bürgerlich.

Was im Internetjournalismus die Leserkommentare unter den Artikeln sind, das sind in der Weltliteratur die Aphorismen: mannigfaltiger, ehrlicher, kühner, freilich oft genug auch törichter.

L’aphorisme se moque de la vraie philosophie.

Die akademischen Disziplinen neigen dazu, ihre Grenzen so zu ziehen, dass die wirklich wichtigen Fragen außerhalb ihres Gebietes liegen. Die Aphoristik ist unter anderem deshalb von so überragender Relevanz, weil sie solche Grenzen nicht kennt.

Indem der Aphorismus apodiktisch tut, ist er Ausdruck eines laissez-penser.

Wer, wie der Dichter und der Aphoristiker, in Andeutungen schreibt, ist ein Demokrat, denn er setzt voraus, dass der Leser ihn с полуслова verstehe und klug sei. Wer aber, wie der Literaturprofessor, alles definiert und lang und breit ausführt, gibt zu verstehen, dass der Leser ein Trottel sei.

Der Aphorismus ist die Geburt eines Gedankens, die Maxime sein Tod.

Der implizite Text einer Aphorismensammlung ist immer die Welt selbst und die Welt im Spiegel der Weltliteratur.

Wenn der Aphoristiker argwöhnt, ein Aphorismus könnte eine Binsenweisheit, ein Plagiat oder fad sein, verbannt er ihn gern in einen Nebensatz und macht also, was als gewagte Conclusio nicht überzeugte, zur gewagten Prämisse, die so tut, als verstehe sie sich von selbst. Wenn der hinzugefügte Hauptsatz gut ist, kann auch diese Art des Aphorismus überzeugen — bis man dem Aphoristiker auf die Schliche kommt.

Der Aphorismus ist das demokratisch-kapitalistische Genre. Er verschwendet keine Zeit.

Die Abhandlungen der Universitätsgelehrten wären im Laborstadium, als kurze Skizzen unausgeführter Texte, die nur die wichtigsten Aussagen stichwortartig oder aphoristisch aneinanderreihten, viel besser als in ihrem fertigen Zustand, wo schlechte Formulierungen, kohärenzheischende Füllsel und Beteuerungen der eigenen Konventionalität und Moralität die ursprünglichen Gedanken im Extremfall völlig verdrängt haben.

Die Maxime ist die böse Stiefmutter des Aphorismus.

Schopenhauers Aphorismen sind keine, sondern teils Exzerpte aus Essays, teils Maximen.

Im Aphorismus ist die Rezeptionsästhetik mit der Werkästhetik versöhnt.

Ein Beispiel für den beleidigenden Euphemismus ist es, das Werk des Aphoristikers als „rhapsodisch“ zu bezeichnen.

Die Nichtswürdigkeit des demokratischen Politikers, der Gómez Dávila noch Aphorismen widmete, ist heute eine Selbstverständlichkeit.

Ein Aphorismenband hat immer etwas von einer sublimierten κρυπτεία.

Ein Aphorismus hat ein Erdstoß zu sein.

Der Aphorismus ist frei von Rhetorik. Die Maxime ist reine Rhetorik.

Der Aphoristiker geht als Gleicher neben seinem Leser; der Essayist geht voran; der Akademist führt ihn an der Leine.

Die Werke der bildenden Kunst funktionieren wie Aphorismen; zumeist freilich nicht.

Was für den Trapezartisten das Netz ist, ist für den Leser von Aphorismen das Internet.

Jacob Burckhardt ist ein heimlicher Philosoph und ein heimlicher Aphoristiker.

Eine Anthologie von Aphorismen ist immer unerträglich, zumeist weil die Blüten stinken, selten weil der Duft zu intensiv ist.

Die Maxime kann hie und da als Aphorismus durchgehen, die Verkleidung als Maxime dem Aphorismus gut anstehen; aber das Bonmot kommt im Aphorismus immer einer Selbstaufgabe gleich.


Version vom 1. Jänner 2015

© Kurt Leutgeb