Wahnsinnszettel

Y es cierto lo que dices, Sancho: por el leer y escribir entró la locura en el mundo.
Miguel de Unamuno

 

1. An meine Nachkommen

Turin, 24. August 2015

Liebe Nachkommen,

so wie ich nie meinen Vorfahren (Morrison, Nietzsche, Cervantes, Ovid und wie sie alle heißen) folgte, sondern immer nur mir selbst, so folgt auch ihr gefälligst immer euch selbst. Und wie ich meinen Vorfahren folgte, indem ich mir selbst folgte, so werdet auch ihr, indem ihr euch selbst folgt, mir folgen.

Macht mir also keine Schande, ihr Leutgebiden!

Der Stammvater der unermesslichen Bescheidenheit


 
2. An Dionysos

Turin, 24. August 2015

Unter Göttern gesagt: der Rausch hat des Katers würdig zu sein und der Kater des Rausches. Wo aber, wie bei den Menschen nur allzu oft, der Rausch und der Kater nicht Selbstzweck, sondern irgendeiner Nützlichkeit unterstellt sind, dort verweilen wir nicht lange. Liebe Grüße auch von Ariadne — es stört dich doch nicht, dass ich mit deiner Angetrauten hier in Italien urlaube?

Apollon


 
3. An die Blondinen

Turin, 24. August 2015

Ich wiederhole: es gibt Frauen, und es gibt Blondinen. Wir machen weiter wie bisher!

Dionysos


 
4. An die Asiatinnen und Afrikanerinnen

Turin, 24. August 2015

Oh wie reich und vielgestaltig ihr seid! Man sollte euch Galaktische und Universelle nennen, und nicht euch nach bloßen irdischen Landmassen wie Asien und Afrika benamsen, in denen eure Formen sich ausbildeten. An unseren Beziehungen ändert sich nichts! Bis bald!

Dionysos


 
5. An Zeus

Turin, 24. August 2015

Einem Vater schreibt man keine Briefe, aber eine Postkarte scheint angebracht. Ich verzeihe dir. Du zeugtest mich, und man sagt mir, diese eine gute Tat wiegt all deine Niedertracht und all die Imperfektion deiner Welt auf. Den Christiano-Islamismus habe ich ausgelöscht, wir herrschen wieder.

Apollon


 
6. An Leto

Turin, 24. August 2015

Alle Welt quakt, liebe Mutter. Über kurzem verwandle ich noch die letzten Bauern in Frösche und werde dann nicht umhinkönnen, mich von ihren Schenkeln zu ernähren.

Dein altes Geschöpf


 
7. An Pan

Turin, 24. August 2015

Ich sehe dich und denke mir: tat tvam asi. Was freilich nichts daran ändert, dass du tief unter mir stehst — so tief, dass sogar die Journalisten und Universitätsleute dich bemerken.


 
8. An den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Nordamerika

Turin, 24. August 2015

Lieber Kollege,

Putin und Konsorten habe ich erschießen lassen. Eure islamistischen Verbündeten im Orient habe ich ausgelöscht. Ich bestehe auf Umweltschutz und Menschenrechten. Die Monroe-Doktrin lasse ich unangetastet. Ich schlage vor, du kommst zu mir nach Turin; ich war auch noch nie dort. Du erkennst mich an den ausgewaschenen Blue jeans und der weißen Baseballkappe.

K.


 
9. An einen schwarzen Hut in der Stadt Anapa

Turin, 24. August 2015

Ich werde zur samtenen Saison kommen. Was wäre die Stadt Anapa, was wäre der Meeresstrand mit seiner unermüdlichen Schwermut — was wärst zuletzt du selbst, mein lieber schwarzer Hut, wenn ich nicht alljährlich nach dem Rechten sähe?

Dein
A. Zvezdin alias Severnyj


 
10. An die russische Sprache

Turin, 24. August 2015

Für die Wasserversorgungssysteme und die Fahrräder muss man den Menschen dankbar sein — lieben kann man sie aber, wenn überhaupt, nur für ihre Sprachen. Und von all ihren Sprachen habe ich (frag nicht warum; „wo die Liebe hinfällt,“ sagen die Deutschen) am meisten immer dich geliebt. Bleib dir treu und vergiss nicht, dass auch die Russen dir nichts anhaben können.


 
11. An die Austriak*innen

Turin, 24. August 2015

Es ist eine grausame Ironie der Geschichte, dass sie mich unter euch erbärmliche Zwerg*innen geschickt hat, die ihr alles Große nur als Nachhall alter Zeiten kennt. Was Wunder, dass ihr mich nicht erkanntet, da ich euch himmelhoch überrage?


 
12. An Winfried Gindl in Klagenfurt

Turin, 24. August 2015

Lieber Winfried,

ich habe die Umbenennung des Sisyphus-Verlags in Nike-Verlag beschlossen. Die gleichnamige Sportartikelfirma kaufen wir, um Rechtsstreitigkeiten zu vermeiden, mit den Einkünften aus dem Verkauf meiner Klassiker (Startauflage eine Milliarde Exemplare; alle Welt lernt heute Deutsch, um mich zu lesen) auf und schenken sie dem Nobelpreiskomitee. Den Verkauf meiner Werke, auch alle Lesungen usw. aus ihnen, auf dem Gebiet der Republik Österreich verbiete ich auf alle Zeiten. Frag aber bitte vorsichtshalber nach, ob das eh nicht den Förderbedingungen des Bundeskanzleramtes und der diversen Bundesländer widerspricht — denn über kurzem wird dieser elende Landstrich Österreich ohnehin endlich die Eigenstaatlichkeit einbüßen, sodass wir uns die Mühe auch sparen können.

Liebe Grüße,

Kurt


 
13. An Friedrich Nietzsche

Turin, 24. August 2015

Fritz,

Freundschaftsanfragen kommen nicht in Frage, da wir beide das Gesichtsbuch scheuen. Emailadresse habe ich keine von dir, daher antworte ich dir auf diesem Wege. Dass du wahnsinnig geworden bist, merkt man daran, dass du lauter Menschen schreibst. Und selbst unter Menschen wären würdigere Adressaten aufzutreiben gewesen als der römische König und Papst. Dass du dich mit dem Gekreuzigten identifizierst, schreibe ich deinem Großmut zu und halte ich dir nicht vor. Ein paar mehr Frauen (d. i. Weiber) hätte ich mir unter deinen Adressaten schon gewünscht — dann wärst du vielleicht nicht wahnsinnig geworden, oder anders … Meta von Salis ist sicher eine Unperson; „Edelmenschen und ähnliches Gesindel,“ meinte Adorno. Aber die unmöglichsten sind ja oft die schärfsten. Und deine Ariadne Cosima — unter Antiengländern muss die Frage erlaubt sein: Did you give her one? Ich fürchte, nein.

Bau keinen Scheiß.

Dein Kurt


Version vom 9. Oktober 2015

© Kurt Leutgeb